De Levenstied
Die Lebenszeit
van Wilhelmine Siefkes (1890 - 1984 in Leier)
on Wilhelmine Siefkes (1890-1984 in Leer,
Ostfriesland)
(neit kwad wesen, enkelde Woorden bin in Börkumer Platt)
von Beruf Pädagogin, SPD-Mitglied, von den Nationalso-
zialisten entlassen, Schreibverbot, Schriftstellerin.
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As uns leive Heer de moije Eer un alles, wat daar up
is, klar harr, da bleev hum bloot noch eins over: hau
lang de Levenstied van alles, wat Aam halen de,
düren sull, dat muss he noch fastsetten.
Als der liebe Herr die schöne Erde und alles, was
darauf ist, fertig hatte, blieb ihm nur noch eins
über: Wie lange die Lebenszeit von allem, was
atmete, dauern sollte, das musste er noch fest-
legen.
Daar kwamm de Esel bi hum un fraug: "Hau lang
wullt du mi leven laten, Heer?"
Da kam der Esel zu ihm und fragte: "Wie lange
lange willst du mich leben lassen, Herr?"
"Mi dünkt, darteg Jahr", see de leiwe Gott, "bist daar
taufree mit?"
"Mir dünkt, dreißig Jahre", sagte der liebe Gott,"
bist (du) damit zufrieden?"
"O Heer! Darteg Jahr?", reip de Esel. " Dat is doch
wall neit dien Eernst? So lang sall ik mi skeiv slepen
an dat, wat dat Menskenvolk mi upleggt? Sall hör
Koorn na de Möhlen hendragen, umdat seej Brood
daarvan eten, dat ik verdeint harr, un sall mi daarför
skuppen un stöten laten? Dat wullt du mi doch neit
andaun?"
"O Herr! Dreißig Jahre?", rief der Esel. "Das ist doch
wohl nicht dein Ernst? So lange soll ich mich schief
schleppen an das, was das Menschenvolk mir
auflegt? Soll ihren Korn zur Mühle hintragen, damit
sie Brot davon essen, das ich verdient hätte, und
soll mich dafür schupsen und stoßen lassen? Das
willst du mir doch nicht antun?"
"Na", see de leiwe Gott," dann will ik di achttien
Jahr d'r offlalten".
"Na", sagte der liebe Gott", dann will ich dir
achtzehn Jahre davon ablassen".
Well was blieder as de Esel.
Wer war froher als der Esel.
Nett harr heej de Dreih, da kwamm de Hund.
Er hatte sich gerade umgedreht, da kam der Hund.
"Hauvöl Jahren hest du mi taudocht, Heer?" fraug
heej.
"Wie viel Jahre hast du mir zugedacht, Herr?"
fragte er.
"Darteg!", see de Heer, "de Esel meint ja,för hum is
dat tauvöl, man du sallst hör ja wall slieten".
"Dreißig!", sagte der Herr, "der Esel meint ja, für
ihn wäre das zu viel, aber du kannst es wohl
beanspruchen"
"Och nee, Heerohm", jöselde de Hund, "darteg Jahr?
Un dat för eine as mi, dej sück Dag för Dag de Tunge
ut de Hals lopen mutt? Un as ik neit mehr blaffen un
bieten un bloot noch in de Hauk un achter de Ovend
rumschulen un gnurren kann, wat sall ik dann noch
up de Welt?"
"Och nein, Herr" (Ohm bedeutet ursprünglich Onkel, hier eine
Hochachtung für den älteren Menschen), jammerte der
Hund," dreißig Jahre? Und das für einen als mich,
der sich Tag für Tag die Zunge aus dem Hals laufen
muss? Und wenn ich nicht mehr bellen und beißen
kann und nur noch in der Ecke und hinter dem Ofen
Schutz suchen und knurren kann, was soll ich dann
noch auf der Welt?"
"Hest recht", see de leive Gott, "ik geev di twalv
Jahr minder".
"Hast recht", sagte der liebe Gott", ich gebe dir
zwölf Jahre weniger".
Daar kwamm de Aape anhüppen. "Na Api", see de
Heer, "du kannst ja wall darteg Jahr bruken. Du
bringst dien Dagen mit Leegloopen hen, rackerst di
neit off un hest nix as Pläseier".
Da kam der Affe angehüpft. "Na Api", sagte der
Herr," du kannst doch bestimmt dreißig Jahre
gebrauchen. Du bringst die Jahre mit faulenzen zu,
rackerst dich nicht ab und hast nichst als Spaß".
"Och Heer", see de Aape," dat meinst du, man well
hett dat so stur as ik! De Mensken drieven hör
Spijöök mit mi, un ik mutt dag-ut-dag-in lüsteg
wesen un Fratzen maken, un elk un ein lacht over
mi. Un wenn ik mal ein Appel krieg, dann is dej wiss
suur. Sien Leven lang lüsteg wesen mutten, dat is
doodstrüreg. Darteg Jahr holl ik dat neit vull!"
"Och Herr", sagte der Affe, "das meinst du, aber
wer hat es so schwer wie ich! Die Menschen treiben
ihre Faxen mit mir, und ich muss tagein, tagaus
lustig sein und Fratzen machen, und jeder lacht
über mich. Und wenn ich mal einen Apfel bekomme,
dann ist er bestimmt sauer. Sein Leben lang lustig
sein müssen, das ist todtraurig. Dreißig Jahre halte
ich das nicht voll!"
Dat kunn de leiwe Gott begroten, un he see:" Dann
will ik di d'r tien Jahr offlaten"
Das stimmte den lieben Gott traurig, und er sagte:
"Dann will ich dir zehn Jahre ablassen."
As se nu all hör Deil taumeten kregen harrn, da
kwamm de Menske, so jung un friss un gesund, as
Gott hum makt harr: "Hau lang, meinst du, dat ik
leven sall?"
Als nun jeder sein Teil zugemessen bekommen
hatte, da kam der Mensch, so jung und frisch und
gesund, wie Gott ihn gemacht hatte: "Wie lange,
meinst du, soll ich leben?"
"Darteg Jahr", see de Heer, " bist daar mit taufree?"
"Dreißig Jahre", sagte der Herr, "bist du damit
zufrieden?"
"Darteg Jahr?", reip de Menske, " och Heer, dat is ja
dat Anfangen neit weert! Wenn ik glückelk mien
eigen Huus un Heerd hebb, wenn de Bomen, dej ik
plant hebb, blöijen un Früchte ansetten, wenn ik na
all mien Möite un na all mien Sörgen endlek geneiten
will, denn sall't ut wesen? Nee, Heer, ik mag di
beden, legg mi wat tau tau mien Levenstied."
"Dreißig Jahre", rief der Mensch, "och Herr, das ich
ja das Anfangen nicht wert! Wenn ich glücklich
mein eigenes Haus und Herd habe, wenn die
Bäume, die ich gepflanzt habe, blühen und Früchte
ansetzen, wenn ich nach all meiner Mühe und nach
all meinen Sorgen endlich genießen will, dann soll
es aus sein? Nein, Herr, ich mag dich bitten, lege
mir etwas zu zu meiner Lebenszeit."
"Gaud", see de leiwe Gott, " denn sallt du de
achttien Jahr daarbi hebben, dej de Esel neit hebben
wull".
"Gut", sagte der liebe Gott, "dann sollst du die
achtzehn Jahre dazu haben, die der Esel nicht
haben wollte".
"Geev mi mehr!", reip de Menske.
"Gieb mir mehr!", rief der Mensch.
"Gaud, denn nehm de twalven d'r noch bi, dej de
Hund tauvööl wassen!"
"Gut, dann nimm die zwölf noch dazu, die dem
Hund zu viel waren!"
"Mehr", reip de Menske.
"Mehr", rief der Mensch.
"Du sallt dien Wille hebben", see de Heer, "de tien
Jahr, dej ik de Aape offlaten hebb, sülln di taugaude
komen. Man daar is't denn uk wall genug mit!"
"Du sollst deinen Willen haben", sagte der Herr, "
die zehn Jahre, die ich dem Affen abgelassen habe,
sollen dir zugute kommen. Aber dann ist es ja wohl
genug damit!"
De Menske harr geern noch mehr nohmen, man he
doors't neit seggen.
Der Mensch hätte gern noch mehr genommen, aber
er durfte es nicht sagen.
Un so is he tau sien Levenstied komen.
Und so ist er zu seiner Lebenszeit gekommen.
De erste darteg Jahren, dat bin dej, dej hum as
Menske taudocht wassen: daar leevt he gesund un
friss un röögt sien Handen mit Lüst, un sien Dagen
bin vull Hope un Tauversicht.
Die ersten dreißig Jahre, das sind die, die ihm als
Mensch zugedacht waren: Da lebt er gesund und
frisch und rührt seine Hände mit Lust, und seine
Tage sind voll Hoffnung und Zuversicht.
Man dann komen de Jahren, dej he de Esel offnomen
hett: Daar hett he an tau dragen, dej bin vullpackt
mit Last un Sörgen: denn kummt he d'r achter, dat
he sück för andern utsloovt un nümms hum dat
danken deit.
Aber dann kommen die Jahre, die er den Esel
abgenommen hat: Da hat er an zu tragen, die sind
vollgepackt mit Last und Sorgen: Dann kommt er
dahinter, dass er sich für andere ausbeuten (lässt)
und niemand es ihm dankt.
Un dann komen de Jahren, dej för de Hund berekent
wassen. Nu waart dat minder mit hum. He kruppt un
liggt un gnurrt wat rum, hett kien Kracht mehr tau
warken un kein Tannen mehr tau bieten un will neit
mehr achter de Ovend weg.
Und dann kommen noch die Jahre, die für den Hund
berechnet waren. Nun wird es weniger mit ihm. Er
kriecht und liegt und knurrt (was) rum, hat keine
Kraft mehr zu arbeiten und keine Zähne mehr zu
beißen und will nicht mehr hinter dem Ofen weg.
Un denn komen noch de Jahren van de Aape: He
waart swack in de Kopp, sien Gedau is kinder-
achteg,wat he seggt, daar waart over lacht un nüms
nimmt hum mehr eernst.
Und dann kommen noch die Jahre von dem Affen: Er
wird schwach im Kopf, sein Getue kinderartig, was
er sagt, darüber wird gelacht und niemand nimmt
ihn mehr ernst.
Wat gaud, dat de leive Gott ein Inseihn hatt hett!
Gut, dass der liebe Gott ein Einsehen gehabt hat!