Dieser Aufsatz enthält auch eine leichte Kritik an der Lebensweise der Insulaner
in der damaligen Zeit.
Todtengebeine als Planken
Die Sehenswürdigkeiten von Borkum haben das Eigenthümliche an sich, daß
eigentlich nichts daran zu sehen ist und daß sie dennoch sehr des Sehens würdig
sind, weil einem über dem sinnenden Ansehen viele Gedanken und Erinnerungen
kommen. So sieht z. B. der Badegast, der das Dorf Borkum durchschlendert ,
etwas Grausiges. Er sieht nämlich, das die Gärten und BleichpIätze u. s. w., die
man in der übrigen Welt mit einem Zaun, einer Planke oder lebendigen Hecke
umgibt, - daß die also mit lauter Todtengebeinen eingefaßt sind , - mit Todten-
gebeinen eines vormaligen RiesengeschIechts; denn obgleich diese Gebeine nur
Knochenstücke sind; so sind sie dennoch ihre vier bis zwölf Fuß lang, einen Fuß
dick und anderthalb Fuß breit. Hart nebeneinander sind sie in die Erde gerammt
und stehen da schon seit mehr als hundert |ahren, wie eine Mauer fest, und wie
viele Stürme auch über Borkum hergebraust und wie viele Regenschauer auch
darauf herabgefallen sind, die Gebeine sind wohl ergraut und bemoost, aber nicht
wackelig geworden.
Ei, sagst du, was sind denn das für Todtengebeine? von welchen Riesenge-
schlechtern stammen sie her? Und was ist das für eine borkümmerIiche Rohheit,
Todtengebeine als Planken zun benutzen? Nun, ich will's nur verrathen, es sind
Rippen und andere Knochen von - Wallfischen. Den die Urgroßväter und Ur= Ur=
und nochmals Urgroßväter des jetzigen Borkums waren unternehmende Leute,
hochberühmt in weiten Meeren und besonders von dem Wallfisch sehr gefürchtet.
Und viele Kommandeurs der Wallflotten wohnen hier auf Borkum, und einer von
diesen hat sogar der Gemeinde und den Armen Borkums je tausend Gulden
vermacht, wie in der Kirche auf einer kolossalen schwarzen Tafel in holländischer
Sprache zu Iesen ist. Denn ein Kreuz oder Altarbild darf in einer reformirten Kirche
um Gottes und der Menschen willen nimmermehr gesehen werden; aber wenn
Einer klingende Münze für die Gemeinde bezahlt hat, das ist etwas Anderes, das
muß man verewigen und allen Leuten ad oculos demonstriren, wie geschrieben
steht Matthäi VI, Vers 1-4.
Die Tafel ist also des guten Beispiels wegen da. Wahrscheinlich haben deswegen
auch die Ahnen des gegenwärtigen Borkumer Geschlechts die Wallfischknochen
um ihre Gärten aufgepflanzt, daß nämlich ihre Kinder auch also thun und sich's zu
Herzen nehmen und der „vorigen Wunder“ gedenken sollten. Aber es hat nichts
geholfen, denn die modernen Borkumer fangen lieber, wie schon bemerkt worden,
Menschen, oder noch besser, direkt ihre Zwanzigmarkstücke und dergleichen.
Aber, von Wallfischen gar nicht zu reden, so kann man jetzt vier Wochen auf der
Insel sein , und man bekommt vielleicht nicht einmal einen Schellfisch oder
Steinbutt zu sehen, geschweige zu essen, - so treiben's jetzt die Borkumer. Und
wenn man sie auf die Wallfischknochen hinweist und ihnen sagt, schämt ihr euch
denn nicht? was waren eure Väter für Helden und was seid ihr für Stubenhocker
und Strandläufer geworden? - so klopfen sie auf ihre Westentasche, wo die
Zwanzigmarkstücke innen sind, gähnen dir gemüthlich in's Gesicht, gehen, die
Hände in den Hosentaschen, nach Hause, und frühstücken zum zweiten oder
dritten Male.
Der freundliche Leser aber wird mir zugeben, daß diese Gärten, mit den
Riesen=Todtengebeinen des Wal's garnirt, wirklich eine Curiosität und Specialität
von Borkum sind. Wenn er aber denkt, vor diesen Sehenswürdigkeiten ständen die
Badegäste still und machten allerlei Reflexionen darüber, so irrt er sich. Denn die
meisten, die sie sehen, sehen sie gar nicht weiter an, indem sie meinen, es sei
eine eigentümliche Art von altem Holz; so sehen diese Knochen nämlich aus. Die
Kinder aber, denen ich davon erzählte, wie das wohl zugegangen sei, als man einst
diese riesigen Bestien, deren jede einzelne wohl ihre 100.000 Pfund wog,
zwischen den Eisbergen um Grönland gefangen hat, und wie da die Männer
geschrieen haben und gejauchzt in ihren Booten, und wie sie die Harpunen
auswarfen und wie das Wasser hoch aufspritzte und die Wellen des Meeres roth
wurden vom Blute der Ungeheuer, und wie da auch mancher heldenhafte
Borkumer Mann sein liebes Leben verlor und nie wieder nach Borkum heimkam, -
die Anderen aber desto fröhlicher, mit den Schiffen voll Thran, Fett, Fischbein,
Rippen und Zähnen, - als ich das und vieles Andere den Kindern erzählte, da haben
ihnen die Augen geleuchtet und es ist ihnen gewesen, als hätte ich ihnen ein
Märchen erzählt, und sie schauten fast mitleidig auf die Borkumer von heute und
von gestern. Und ein kleines, liebes Mädchen von acht Jahren hat gemeinte: „was
wird das aber einmal geben, wenn nun die Auferstehung der Todten ist, und diese
Wallfische werden alle wieder lebendig und sie finden sich dann hier auf dem
Trockenen; wie werden die sich wundern und was wird das für ein GekrabbeI und
GerappeI geben?“ Und ich habe über die „sancta simplicitas“ des schwarzäugigen
JüngferIeins herzlich lachen müssen, daß mir die Thränen darüber gekommen
sind, und zwar keine bitteren und salzigen Thränen. Ja, das würde allerdings eine
große Sehenswürdigkeit in Borkum sein, aber sie wird nicht sein. Denn nicht von
den Wallfischen, sondern von dem Menschenkinde nach Gottes Bild geschaffen,
heißt es: „was ist der Mensch, daß Du sein gedenkest, und des Menschen Kind, daß
du dich seinem so annimmst?“ Die Wallfische aber haben weder Hoffnung noch
Verheißung, und befinden sich auch ganz gut dabei.
Der Leser sieht also, daß die Wallfischgärten von Borkum wirklich eine
Sehenswürdigkeit sind, wie wenig auch daran zu sehen ist. Doch magst du nicht
immer und ewig vor den alten Knochen stehen und willst was Neues haben. Gehen
wir also weiter.
Überlieferungen
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