Dieses ist der eindrucksvolle und traurige Bericht über das Leiden eines in der
damaligen Zeit verrückt gewordenen Mädchens namens Geertje. Sie verstarb
1866. Da dieser Bericht auch einen Einblick in das Leben auf der Insel zur
damaligen Zeit ermöglicht, wurden die gewählten Auszüge etwas ausführlicher
bemessen.
’’ ....... in diesem alten Hause (Armenhaus) habe die ”Malle Geertje”
zweiundvierzig Jahre an der Kette gelegen. Ich horchte auf; einmal war es mir ein
Wundert, dass so ein schweigsamer Insulaner, ohne gefragt zu sein, überhaupt
etwas erzählte; mehr aber durchzuckte mich das, was er sagte; denn obgleich ich
noch nichts davon verstand, so merkte ich doch gleich, dass nicht von einem Tiere,
sondern von einem Menschenkinde, welches zweiundvierzig Jahre an der Kette
gelegen habe, die Rede sei. Nach vielen Forschen und Fragen ergab sich mir dann
folgende Geschichte:
Im Jahre 1821 hatten die Leute von Borkum, die mit ihren Vögten je und
meistenteils nicht besser standen, wie die weiland Schweizer mit den Tyrannen
Geßler, Landenberg und Konsorten, wieder einmal ein wenig gegen die
Ortsobrigkeit revoltierten. Zur Strafe wurden ihnen von der hannoverschen
Regierung eine halbe Kompanie Soldaten auf die Insel gelegt, die aber bald mit
ihren unfreiwilligen Wirten in ein gutes Vernehmen kamen.
Nun war damals unter den Jungfrauen Borkums eine, ausgezeichnet von allen
anderen, die edelste und schönste Blume der Insel. Sie war ein Waisenkind. Ihr
Vater, Tjark Hinderks Haan, soll auf See umgekommen sein, ihre Mutter Eltje war
ihm bald nachgestorben. Geertje fand aber ihre reichliche Nahrung durch die
Geschicklichkeit und den Fleiß ihrer Hände; denn sie wußte mit der Nähnadel
trefflich umzugehen. Doch auch in geistigen Dingen war Geertje hochbegabt.
Besonders hatte sie in seltenem Maße die Gabe des Gesanges, so dass schon um
dessentwillen Jedermann sie gern hatte. Was noch mehr als das Alles war, - sie
war ein sehr reines, unschuldiges und tugendhaftes Wesen, und gerade von ihr
hätte man am wenigsten geahnt, dass sie in äußerlich grobe Sünden fallen würde.
Aber Geertje war schön, auffallend schön, und die Schönheit, eine der lieblichsten
und gefährlichsten aller himmlischen Gaben und Gnaden - wurde ihr Verderb.
Diese ihre Schönheit muss sehr groß gewesen sein, denn selbst die kühlen alten
Insulaner wurden immer ganz warm, wenn sie davon erzählten.
Nun ging es eben wie es geht; die Soldaten, die ihre Zeit nicht totzuschlagen
wussten, warfen ihre Augen auf das Mädchen. Sie sah sich bald von allen Seiten
umschwärmt und umschmeichelt. Sie, die bis dahin nichts von sich selbst gewusst
hatte, wurde3 überall zum Mittelpunkt gemacht, und wer kann das vertragen?
Eine Zeitlang ging sie noch stille ihren Weg, aber Eitelkeit und Gefallsucht
gewannen nach und nach großen Einfluss auch auf ihr Herz, und ihre Einfallt und
Demut wichen davor zurück. So gelang es endlich einem der Musketiere, ihr Herz
zu bestricken, er verlobte sich mit ihr und - er verführte sie. Bald nachher, als die
Borkumer genugsam bestraft schienen, wurde das Militär wieder abkommandiert.
Der Soldat schwur seiner Geertje ewige Liebe, aber es wa die alte und neue
Geschichte:
”Er hat ihr Treu’ versprochen,
Gab ihr ein’n Ring dabei,
Die Treu’ hat er gebrochen
Das Ringlein sprang entzwei.”
Aber nicht nur das Ringlein, sondern auch das Herz des armen Mädchens, deren
zartes Gewissen bereits mächtig erwacht war über ihrem Leichtsinn und über ihre
Schande. Schon von dem Tage ihres Falles an war ihr fröhliches, kindlich heiteres
Wesen dahin; als sie aber bald gewisse Nachrichten empfing, dass ihr Bäutigam
gar nicht mehr an sie denke, da senkte sich eine böse Melancholie über ihr ganzes
Wesen und ihr einst so lichtes, Frieden und Freude verkündendes Auge bekam
einen unheimlichen Ausdruck. Dies treue Herz, das sich bis dahin von so
schmählicher Untreue gar keinen Begriff machen konnte, auch dergleichen nie
gehört hatte, wurde nun plötzlich an Allem irre und eine tiefe Bitterkeit vergiftete
ihr vorher so vertrauensvolle Gemüt.
Das Schlimmste aber war, dass die allgemeine Verachtung sie traf. In Borkum
herrschte von Alters her eine gute, scharfe Zucht und strenge Sitte. solche
Vergehen, wie das der betrogenen Geertje, waren damals dort noch fast unerhört,
zählen auch jetzt noch zu den Seltenheiten. Wohl dem Lande und der Stadt, wo es
also steht, wohl ihr - falls diese reine Sitte eine Frucht wirklich religiösen Lebens
ist. So war es aber leider in Borkum nicht. Die Insulaner verabscheuten den
Menschen, der die Satzungen und Sitten der Väter durchbrach, während sie in
anderen Dingen, die wohl von Gott, nicht aber durch das Herkommen verdammt
waren, ein sehr weites Gewissen hatten. Kurzum, sie kannten und hielten hoch
das Gesetz oder vielmehr ein Stück davon; wehe dem, der dagegen sündigte! Aber
sie kannten wenig das Evangelium von der Gnade und Vergebung, obgleich sie gut
orthodox waren. Auch ihre Orthodoxie war eben Herkommen und Gebrauch, wie
es besonders auf dem Lande so vielfach ist. So konnten sie wohl einen gefallenen
Menschen richten und durch ihren Richterspruch in die Verzweifelung jagen; aber
den Gefallenen aufrichten aus dem Staube, den Weg zum Frieden und zum Heile
ihm zeigen, in die Arme des Sünderheilandes, der ein neues Herz und einen neuen
Geist gibt, hinführen, - das konnten wohl nur wenige, und diese scheinen der
armen Geertje nicht näher gekommen zu sein. Kurzum, der Pharisäismus war wie
so vielerwärts in der Christenheit die eigentliche Religion der allermeisten
Insulaner, und das Gesetz, was an und für sich nur Zorn anrichtet, war ihr
hauptsächliches Gotteswort. - In dem alten, noch in holländischer Sprache
geführten Kirchenbuch Borkums ist zu lesen, dass der dortige Pastor im Jahre
1775 mit seinen Kirchenältesten die Erneuerung und strenge Durchführung der
alten reformierten Kirchenzucht beschloss. Da lautet denn gleich der erste
Paragraph so, dass Geertje unter das strengste Gericht fallen musste.
Kirchenzucht ist eine treffliche Sache, ja, sie wäre eigentlich blutnötig, - aber sie
verdirbt viel mehr, wie sie nützt, wenn sie nicht im evangelischen Geiste getrieben
ist von dem evangelischen Geiste durchhaucht ist; dass sie da nicht am Platze ist,
wo ein Menschenkind über seine Sünde ohne dies schon verzweifeln will, wird
wohl jeder Einsichtige zugeben. Ob nun dasd verführte Mädchenwirklich aus der
kirchlichen Gemeinschaft ausgeschlossen ist, oder ob 1821 schon eine schlaffere
Praxis geltend geworden war, davon melden die sonst so interessanten
Kirchenbücher nichts. Nun, Geertje wurde förmlich exkommuniziert oder nicht
exkommuniziert, in der Tat wurde sie jedenfalls, nachdem ihre Sünde offenbar
geworden war, als ein verächtliches Wesen behandelt. Sie, die vorher der Liebling
Aller war, wurde nun von Allen missachtet. Bittere Reue, Verzweiflung und Hass
wühlten zugleich in ihrem Herzen bei Tag und bei Nacht, und ihr ward kein Tröster
erfunden; - Keiner, bei dem sie ausweinen, Keiner, dem sie ihr Herz ausschütten,
und Keiner, der die Tiefe ihrer Sünde erkennen, ihr Gewissen treffen und ihr auch
zugleich den Weg zum Retter zeigen konnte.
Goethe ....... Faust ........ und in ihrem Jammer am tiefsten fühlen?! Auch bei
Geertje sollte es nicht viel anders gewesen sein, ja womöglich noch schrecklicher.
Im Frühling des Jahres 1822 wurde sie die Mutter eines Mädchens, das nach
seiner Großmutter Eltje genannt wurde; doch nicht viele Wochen hatte Geertje das
Kindlein geherzt und an seiner Lieblichkeit ihr eigene Herz ein wenig aufgerichtet,
da musste sie es in’s Grab senken. Alle Welt schrie: ”Das ist die gerechte Strafe
des Himmels,” und ihr eigenes Herz schrie am lautesten: ”Siehe, der Zorn Gottes
ist über dir.” Den aber, der größer ist, als unser Herz und der allein unser Herz
stillen kann, wenn es uns verdammt und der Alles weiß, - den kannte die arme
Gertje nicht. Da sank sie denn, von ihrem Jammer überflutet, in die tiefste
Finsternis des Wahnsinns hinein, ja sie wurde tobsüchtig und verfluchte mit
übermenschlicher Kraft alles zu vernichten und zu zerstören, was ihr vor Augen
und zu Händen kam. Ob nun die guten Leute von Borkum von der Existenz der
Irrenanstalten nichts wussten, oder ob sie das nötige Geld nicht aufbringen
konnten, kurz, sie wussten sich nicht anders zu helfen - -; Geertje wurde in dem
elendigen Kuhstall des Armenhauses an einer Kette festgeschmiedet. Und an
dieser Kette hat sie mit geringen Unterbrechungen zweiundvierzig Jahre lang
(nämlich bis zum Juli 1866) gelegen, gerüttelt, geweint, gewütet, getobt und
gewinselt. Ich bin selbst in dem alten Armenhaus gewesen und habe die Stelle
gesehen und habe sie nur mit Schaudern sehen können, und ...........
Doch meine Leser wollen noch Näheres über Geertje hören. Seit sie wahnsinnig
geworden war, hieß sie die ”Malle Geertje” - (Malle ist ein ostfriesisch-
holländisches Wort, das soviel bedeutet, wie unsinnig, wahnsinnig -) und als Malle
Geertje ist sie heute noch in Borkum bekannt. Da sie in ihrer Tobsucht alles, was
zerreißbar war, vernichtete, so war sie die meiste Zeit ihres Elendes hindurch
unbekleidet. Die Kette, die um ihre Hüfte geschmiedet war, und die auf dem
heißen Körper allmälig spiegelblank wurde war das einzige, was ihrer
Zerstörungswut wiederstand, dabei lag sie auf dem harten Fußboden; indem sie
alles Stroh oder Bettzeug, das man ihr hinlegte, immer wieder durch’s Fenster
warf.
Nun brach sich aber bei den Borkumern das Mitleiden gegen die Unglückliche mehr
und mehr Bahn. Einige wohlhabende und mild gesinnte Familien verbanden sich,
ihr jeden Mittag das Essen zu schicken, doch musste man dazu einen metallenen
Napf anfertigen lassen, da sie nicht selten in ihrem Grimm das Gefäß sammt der
Speise hinter dem, der es brachte, herwarf. Ein ehrenwerter, nun schon bejahrter
Mann in Borkumerzählte mir, wie er als ein Knabe oft das Essen hinbrachte und
dies schaudernd erlebt hatte.
Selten nur ließ ihre Tobsucht nach, dann wurde sie ganz sanft, still, tiefbetrübt
und wehmutvoll, aber freundlich gegen Jedermann, doch sprach und spielte sie
nur mit kleinen Kindern, die dann auch vertraulich zu ihr nahten. In solchen Zeiten
nämlich wurde sie von ihrer Kette gelöst; doch bald fühlte sie wieder de inneren
Sturm aufbrausen und bat dann selbst, zitternd vor den Folgen ihrer Raserei,
flehentlich, sie wieder in ihrem Gefängnis fest zu schmieden. (((Fußnote:
Soeben geht mir über Geertje noch folgende Mitteilung zu, die für das arme
betrogene Geschöpf so charakteristisch ist, dass ich sie beifügen muss. Eine liebe
befreundete Dame nämlich (die ich hiermit herzlich dankend, grüße) war vor
fünfzehn Jahren in Borkum, und zwar gerade zu einer Zeit, als Geertje frei von
ihrer Tobsucht war. Eines Tages ging die betreffende Dame selbst nach dem
Armenhaus, um Geertje die reichlichen Reste ihres Mittagsmahles zu bringen.
Sogleich legte Geertje, gleichsam fragend, ihren Zeigefinger auf den Ring der
Dame. Diese sagte ruhig: ”Es ist mein Trauring.” Da fuhr Geertje wild auf und rief
in klagendem und streng warnenden Ton: ”Trau ihm nicht!” Und von Stund’ an
wurde sie wieder irre und sank in Finsternis und Tobsucht hinein. ..... Damals
(nach 36jährigem Wahnsinn) ratschlagten viele, ob ihr nicht in einer Anstalt noch
zu helfen sei. Allein muss man sagen, dass, wenn jemals Rettung möglich war, es
jetzt ohne Zweifel zu spät sei.))) So brachte sie zweiundvierzig Jahre in
diesem Stalle an einer Kette zu. ...... Zweiundvierzig mal kam der Winter mit
seinen Stürmen und wieder kam der Frühling mit seinem stillen, sanften Säuseln,
aber
lenz zog am Gitter vorüber,
hat ihr ein Blümlein gebracht;
im Gegenteil, zur Frühlingszeit, wenn der Saft in die Pflanzen stieg - (so erzählen
die Leute in Borkum) war es mit ihr am Schlimmsten. Dagegen, wenn die
Winterstürme tobten, dann sang sie oft mit bezaubernder Stimme herliche
Psalmen und andere Lieder, so dass vor dem kleinen Kerkerfenster alles stillstand,
um ihr zu lauschen. Aber bald brach der böse Geist wieder durch und sie tobte und
raste von Neuem. Dann standen die Buben und Mädchen an den Fenstern des
Stalles, und neckten und quälten sie mit Gerten und Ruten wie ein wildes Tier.
.......... Auch in dem Kirchenbuch stehet unbegreiflicher Weise in dem
Todesregister nichts zu lesen, als die kalte Noiz: ”Geertje Tjarks Haan,
Armenhäuslerin; seit zweiundvierzig Jahren wahnsinnig.” Damit Punktum. ..........
Als ein Jammerbild starb sie endlich auch; - Niemandem zu früh, Allen zu spät.
Denn sie kostete der Gemeindekasse jeden Tag 2,50 Silbergroschen! ...... Auf dem
kleinen Kirchhofe Borkums, neben dem Leuchtturm, liegt sie mmit ihrem Kinde
begraben; kein Leichenstein zeichnet ihr Grab, kein Kreuz ist über ihrem Sarge
errichtet, kein Mensch weiß mehr genau zu sagen, wo sie liegt; - aber der Herr
kennt die Stelle. ’’
Überlieferungen
Überlieferungen
Auszüge aus dem Bericht des Bremer Pastors O. Funcke von 1872.
Auszüge aus dem Bericht des Bremer Pastors O. Funcke von 1872.